Littoral / Tideline - Wajdi Mouawad

Damit Menschen sich ändern oder zumindest für einen Moment ihres Lebens innehalten, muss schon etwas gewaltiges passieren. Im Fall von Mittzwanziger Wahab (Steve Laplante ist mit seinem zynischen Charme mal wieder ein Kandidat mit internationalem Potential) ist es der Tod des in Brasilien geglaubten Vaters. Dieser stirbt nur wenige Meter von Wahabs Wohnung entfernt, während dieser eine Frau vögelt, deren Namen er nicht einmal kennt.

Wahab lebt seit seiner Geburt in Kanada und spürt plötzlich, wie ihm sein Leben und alles, was er für sicher hielt, durch die Finger zu rinnen beginnt. Der kaum gekannte Vater und die Tonbänder, die er einmal jährlich zu Wahabs Geburtstag für ihn besprochen hat, scheinen das einzige Bindeglied zu seiner eigenen Vergangenheit zu sein. Bald steht die nervige Verwandtschaft in einer leeren Kirchenhalle und Wahab ist längst samt Sarg unterwegs in die Heimat seiner Eltern, dem Libanon.

Littoral von Wadji Mouawad mit Steve Laplante, Gilles Renaud, Isabelle Leblanc, Miro Lacasse u.a. Wie in vielen Filmen, die in Mannheim zum ersten Mal in Deutschland oder gar Europa gezeigt werden, liegt der Reiz von Littoral in der unbekannten Welt, die uns Regisseur Wajdi Mouawad, selbst gebürtiger Libanese, zugänglich macht.

Wir identifizieren uns mit Wahab, der naiv in ein Land stolpert, das unserem eigenen Lebensraum so fremd ist.

Dem unbedarften, zornigen Wahab stehen bald Gefährten zur Seite und gemeinsam schlagen sie sich durch ein wunderschönes Land, in dem unter jeder Blumenwiese ein verstecktes Minenfeld lauern könnte und ein achtlos verlorener Pass eine Katastrophe sein kann.

Als roter Faden in diesem ungewöhnlichen Roadmovie dient nur der Leichnam des Vaters, der ein wenig an Hitchcocks Farce "Immer Ärger mit Harry" erinnert und ständig verschwindet, so dass sich absurde, komische Momente mit unfassbarem Grauen abwechseln.

Mouwad, der selbst in Montreal lebt, präsentiert uns seine von Konflikten und Kriegen geschüttelte Heimat ohne Sentimentalität oder unterschwelligen Zorn. Er zeigt uns den Libanon von seinen besten und schlimmsten Seiten, wechselt zwischen unberührten Stränden und geplünderten Friedhöfen, bis Wahab seinen Vater endlich an den einzigen Ort bringen kann, wo er Frieden finden wird.

Littoral, zu Recht als Eröffnungsfilm des diesjährigen Festivals ausgewählt, hebt nicht den mahnenden Finger, um zu zeigen, dass es anderen Menschen viel schlechter geht, sondern nimmt alle Probleme ernst.
Ob es die große Sinnkrise ist, unter der wir in unseren bequemen Kinosesseln nur allzu gerne leiden oder der allgegenwärtige Terror, der bei sovielen Menschen auf der Welt vor der Haustüre lauert, macht keinen Unterschied. Denn überall auf der Welt ist das Leben in letzter Konsequenz das Kostbarste, was jeder einzelne von uns hat.

Maxi Braun

Littoral (2004)
Regie: Wajdi Mouawad
Darsteller: Steve Laplante, Gilles Renaud, Isabelle Leblanc, Miro Lacasse u.a.
offizielle Website: -
imdb Info: Littoral