Kurzfilmtage 2011 Oberhausen - Internationaler Wettbewerb

Ein faszinierender Filmtrip fühlt sich im Idealfall wie eine Achterbahnfahrt an: Aufregung, Angst, Tränen, Ekstase, Lachen, alles dabei. Ein geübter Festivalbesucher von Langfilmfestivals kann bei sehr gut trainiertem Sitzfleisch fünf bis sechs dieser Fahrten pro Tag absolvieren. Bei den Internationalen Kurzfilmtagen in Oberhausen hat man dieses Pensum bereits nach dem ersten Programmblock weit hinter sich gelassen. Vor allen Dingen im Internationalen Wettbewerb, wo narrative Filme eine Seltenheit sind, endet die oben beschriebene Fahrt nach diversen Killerloopings nicht selten im freien Fall.

Auch die diesjährige Auswahl bot wieder jede Menge Groteskes, Abstraktes, Verstörendes.
Epilepsie verursachenden Montagen und Lichtspielereien (Possessed, Elliptic Intimacy), bedächtige Dokumentationen brabbelnder Babys (Avant les mots) und nackter Großmütter (Rondo) oder Impressionen urbaner Zwischenwelten und menschlicher Lebensräume bei Tag (Diario colorado), bei Nacht (Adormecidos) und irgendwo dazwischen (Yesterday’s Memory. Today’s outline. Tomorrow’s forgetting). Bei aller Saturiertheit und dem offenen Bekenntnis zum experimentellen Film ist so auch im 57. Anlauf der Kurzfilmtage noch immer diese gewisse Lust zur Provokation zu spüren, bei der der rebellische Geist zufrieden schmunzelt, wenn das Publikum belustigt, genervt oder irritiert zurückbleibt.

Dennoch gab es auch 2011 die kleinen und großen Überraschungen, die dieses Festival so einzigartig machen. So gesehen in dem japanischen Animationsfilm Wakaranai Buta von Wada Atsushi, wo eine gigantisch fette Sau den lästigen kleinen Jungen, der sie zum Aufstehen zu bewegen versucht, einfach auf die feuchte Schweinenase hebt und in der Atemluft wie in einem Windkanal tanzen lässt.

Oder in Jesper Justs Sirens of Chrome. Unendlich lang beobachten wir die vier afroamerikanischen Protagonistinnen dabei, wie sie durch das menschenleere Detroit tuckern, bis sich plötzlich die Architektur in der gewölbten Windschutzscheibe wie eine Parallelwelt zu spiegeln beginnt. In einem Parkhaus angekommen wirft sich eine Sirene auf den Wagen und vollführt ein sinnliches Ballett auf dem nachgebenden und mit den fließenden Bewegungen ihres Körpers verschmelzenden Blech und verführt die vier anderen letztlich dazu, ihr zu folgen, wohin auch immer. Sirens of Chrome spielt mit den glänzenden Oberflächen der Autostadt Detroit genauso wie mit dem Metall des Gefährts selbst und verleiht ihm die mysteriöse Qualität einer modernen Odyssee, bei der Homer am Ende jedoch die betörenden Sirenen triumphieren lässt.

Manchmal überdauert die Überraschung nicht nur kurze Momente, sondern wirkt sogar über das Ende des Films nach, wie im Fall des mit einem der beiden Hauptpreise der Stadt Oberhausen ausgezeichneten The Artist.
Das filmische Selbstportrait von Laure Prouvost liefert einen Einblick in Hirn und Herz der französischen Künstlerin und wurde selbst in der Wiederholung in einem kleinen Kino abseits des großen Saals der Lichtburg mit Applaus gefeiert. Der zutreffenden Begründung der Jury, The Artist sei ein "völlig überdrehter Atelierbesuch aus der Hölle" mag man nur noch ein Zitat aus einem anderen, ebenso raffinierten Künstlerportrait hinzufügen.

In Banksy, Exit through the Gift Shop äußert sich der bekannte Street Art-Künstler Banksy selbst wie folgt über den vorgeführten Franzosen Thierry Guetta: "You know... it was at that point that I realized that maybe Thierry wasn't actually a film maker, and he was maybe just someone with mental problems who happened to have a camera."
Madame Prouvost, die in Großbritannien arbeitet, genießt gegenüber Guetta allerdings einen entscheidenden Vorzug, nämlich den des Talents, wie Einzelausstellungen der Künstlerin in der Londoner Saatchie Galerie und dem Tate Modern unterstreichen.

Auch der ARTE-Preis für den besten europäischen Kurzfilm geht mit dem israelischen Tse von Roee Rosen an ein Highlight der Kurzfilmtage. Anfänglich ist Tse eine fiktive Dokumentation der israelischen BDSM-Szene, bei der eine linke, lesbische Domina einer eher rechtspolitisch geprägten und in der Rolle der Unterworfenen aufgehenden Blondine gegenübergestellt und über sexuelle wie politische Vorlieben geplaudert wird.
Die zuvor separat Interviewten werden in einer sexuellen Szenerie als Sub und Dom zusammengeführt und die dokumentarische Fassade bröckelt, als sich das lustvolle sadomasochistische Erlebnis in einen Exorzismus verwandelt. Das Ritual soll die Blondine von den Ideologien des als Hardliner bekannten israelischen Außenministers Avigdor Lieberman befreien. Mit wachsender Erregung brechen die anti-palästinensischen, rassistischen, faschistischen Äußerungen – allesamt Originalzitate Liebermans – aus der "Besessenen" heraus, dass Linda Blair neidisch werden könnte. Tse ist dabei ein physisch wie politisch mutiges, exhibitionistisches Statement.

Auch der lobenden Erwähnungen der internationalen Jury für den einzigen deutschen Beitrag im Internationalen Wettbewerb I'm not the Enemy von Bjørn Melhus kann man nur beipflichten, da hier Kriegsneurosen und Traumata durch den Transfer von Dialogen aus amerikanischen Kriegsfilmen in die deutsche Kleinstadtidylle ganz im Sinne der durch die russischen Formalisten geprägten "Verfremdung" neue Perspektiven auf dieses ernste Thema offenbart werden.

Three Walls, der von der Jury des Ministeriums für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes NRW ebenfalls eine lobende Erwähnung erhielt, darf zusätzlich zu den Publikumslieblingen gerechnet werden.
In der kanadischen Dokumentation von Zaheed Mawani wird die Geschichte der klassisch amerikanischen Bürobox mit drei Wänden am Beispiel von verschiedenen Angestellten beleuchtet. Es zeigt sich, wie mit viel Humor und Pragmatismus versucht wird, sich den anonymen, an Privatsphäre mangelnden und allein im Zeichen ökonomischer Effektivität konzipierten Arbeitsplatz zu Eigen zu machen.
Während den einen diese Aneignung durch persönliche Gegenstände gelingt, halten sich andere jeden Freitag an der Überzeugung fest, am Montag nicht in die winzige Box zurückzukehren.
Gescheiterte Lebensträume und der Sinn und Unsinn von der den Menschen aus dem Blick verlierenden Arbeitsplatzoptimierung zeigt sich in Three Walls nur zu deutlich, aber bei aller Kritik auch mit einer guten Portion absurden Humors.

Der Gewinner des Preises der Internationalen Kurzfilmtage selbst, eine politische Stop-Motion-Animation um eine an Christbaumschmuck aus Stroh erinnernde Figur in dem ugandischen Beitrag Kengere, versprüht dann auch wieder den eingangs beschworenen, rebellischen Geist der Organisatoren. Denn bei aller Phantasie, mit der hier durch liebevolle Animation und Toncollagen eine eigene Welt erschaffen wird, die gelobte Dokumentation der massiven Menschrechtsverletzungen in dem ostafrikanischen Staat bedarf erst der Erklärung aus dem Programmheft und ist im Werk selbst nur schwerlich auffindbar.

Im Gegensatz zu den anderen Programmen fällt im Internationalen Wettbewerb immer wieder auf, dass narrative Filme es schwer in Oberhausen haben. Die Publikumsreaktionen zeigen aber, dass Elemente des Erzählkinos bei aller Liebe zum "anderen" Film doch eher geschätzt als dämonisiert werden. Die Kunst ist eben nicht nur Verzicht, sondern besonders gut, wenn sie sich nicht auf technische Sperenzchen und Provokation allein verlässt, sondern die mannigfaltigen Ausdrucksformen des filmischen Mediums auf neue, vielleicht nie zuvor dagewesene Art miteinander zu vermischen weiß.

Maxi Braun
14.05.2011